Pension der bebenden Betten
Eigentlich wollte ich eine Kolumne über Faulheit schreiben. Ich liebte schon als Kind, gepflegt abzuhängen. Ich erinnere mich an einen sogenannten Buß- und Bettag im November, draußen war es dunkel, schulfrei dank Jesus. Ich war 7 oder 8 Jahre alt, hatte einen Haufen Asterixhefte und eine große Schüssel Erdnussflips. Meine Mama hat mir aus Bettdecken eine Höhle gebaut, es war schön warm und ich hatte beste Laune beim ziellosen Verstreichenlassen dieses finsteren Tages. Ich ahnte schon, dass mir die religiöse Bedeutung des Buß- und Bettages nicht schmeckt: ohne etwas verbrochen zu haben, sich seiner Sünden schämen und Reue empfinden zu müssen ist kein gutes Programm für die meisten Kinder. In diesem Jahr damals fiel der kirchlich verordnete Feiertag des schlechten Gewissens mit dem Geburtstag meines Großvaters zusammen.
Die Finsternis des Fremdgefühls
Im Wiener Caffeehaus in Berlin-Grunewald. Neben mir sitzen zwei gebräunte Herren, etwa 60-jährig. Sie würden auf einer Trigema-Betriebsfeier mit Wolfgang Grupp nicht fremd wirken. Einem steht in dunkelblauer Stickung „Boss“ auf dem hellblauen Polohemd geschrieben. Das drückt nicht nur eine klare modische Entscheidungsfantasie aus, sondern ist vermutlich auch die textile Niederschrift des eigenen Statusempfindens.
Über Niveau / mein erster Witz
Meine feinfühlige Promoterin weiß, dass ich mich in einer Linie mit Gustav Mahler, Richard Wagner und Frank Sinatra sehe und mir in Gesellschaft der Geissens, Andy Borg und dem Wendler künstlerisch ein bisschen fremd vorkomme. Mein Verhältnis zu jeder Art von Presse ist aber vergleichbar mit einem seit Tagen in der Wüste Umherirrenden zum Wasser.
Gebrandmakelt
Die Esoteriker hatten recht: alles ist Energie, Energie ist alles. Schlechte Zeiten für Verschwender. Vor ein paar Jahren dichtete ich in einem Song: „Kluge Leute sagen, es sei die Qualität, nicht die Quantität, um die es wirklich geht. Was soll dann einer wie ich machen, der nun mal auf beides steht?“ – inzwischen besitze ich ein Messgerät, das mir anzeigt, wieviele Kilowattstunden durch meine Stromleitung ballern, wenn ich aus reiner Bequemlichkeit Tag und Nacht den Computer anlasse, mit all den Festplatten und komischen Geräten zum Musikmachen.
Dopamin to go
Bei Heiner Müller und Peter Handke heißt es, die Werke seien klüger als ihre Autoren. Ich bin nicht intelligent genug, um sicher sein zu können, dass das als Kompliment gemeint ist, aber ich vermute, es gilt auch für mich: denn mit dem Song „Musik ist Liebe“ habe ich unwissend meine ganze Haltung zur Musik in einen schmissigen Slogan gegossen. Und das in einer Zeit, in der alles ironisch sein musste. Mitte der 90er komponierte ich die Schlagerparodie, mit der ich die Betroffenheit überexpressiver Schmalzbarden aufs Korn nehmen wollte. Was nur halbwahr ist: in Wirklichkeit wollte ich selbst ein überexpressiver Schmalzbarde sein.
Übers Zögern
Es gibt einen legendären Sesamstraßensketch mit Ernie & Bert: Ernie will baden, Bert ist wie immer genervt, weil er weiß, dass jede Aktion Ernies ihn seine Ruhe kostet. Denn Ernie geht nicht einfach normal in die Badewanne, er nimmt außer seinem Quietscheentchen auch eine Taschenlampe mit, einen Regenschirm und einen Ball. Das macht Bert fertig. Ernie erklärt, dass er die Taschenlampe braucht, falls der Strom ausfällt: dann soll sich das Quietscheentchen nicht im Dunkeln fürchten müssen. Außerdem könnte es sein, dass es im Badezimmer durchs Dach regnet, dann soll das Quietscheentchen nicht nass werden, zumindest nicht von oben. Um für die Eventualität vorbereitet zu sein, dass jemand vorbeikommt, um sich einen Ball auszuleihen, nimmt Ernie diesen mit und hält gutgelaunt aus, dass Bert sämtliche Synapsen durchknallen.
Vetternwirtschaft und Bisse
Dem Cousinentum haftet Vielsagendes an: vor hundert Jahren konnte man mit der Cousinenbehauptung ein Hotelzimmer bekommen, um einer illegitimen Romanze Raum zu schenken. Wirte drückten dabei ein Auge zu und sahen es nicht so eng mit dem Kuppeleiverbot unter Nichtverheirateten. Verboten ist die Liebe zwischen Menschen, die sich die Großeltern teilen, nämlich nicht.
Lonely Media
Als ich volljährig war, wollte ich mit aller Gewalt das Leben meines Vaters nachgestalten. Ein Jahr zuvor, als ich 17 war, hatte er sich aus dem Diesseits verabschiedet. Nach einem Lebenslauf, gegen den eine Achterbahnfahrt mit fünf Loopings ein Spaziergang ist, mit nicht einmal 40 Jahren. Vieles, was ich heute tue, kommt von ihm: mein Vater spielte Klavier und sang. So richtig einzusteigen in die Hingabe an den Musikerberuf war aber nicht seine Sache. Er ließ sich einfach zu gern treiben, sein Zuhause war der Exzess: der Vollrausch, lustvolle Begegnungen en gros, manischer Optimismus – mitsamt all den schmerzhaften Gegenkräften. Madame Einsamkeit und Baronesse ohne Hoffnung lagen immer häufiger mit im Liebesnest. Die Eheleute Tod und Tristesse leisteten ihm am Tresen finstere Gesellschaft.
Mephistos for future
Im Spielcasino Bremen konnte man an der Rezeption eine Krawatte leihen. Ohne Schlips kein „Rien ne va plus“. Bei der Bundeswehr war Kurzhaarschnitt Befehl, das hatte etwas mit Männlichkeit zu tun. Als ich ein kleiner Junge war, konnten Männer mit langen Haaren noch richtig Ärger bekommen. Als Schüler musste ich mal mit dem Musik-Kurs in die Oper, Don Giovanni von Mozart. Ich trug eine kurze Hose und Roller Skates. Ich gefiel mir in meiner provokativen Attitüde. Ich fand, dass ich das Recht dazu hatte, als junger Komponist so zu sein wie ich bin, unter all den verkleideten Bildungsbürgern, die das Werk meines berühmten Kollegen nur konsumieren, aber nicht verstehen.
Toxic Happiness
Fragt mich jemand nach meinem Befinden, antworte ich meist: „blendend“. Tatsächlich wird mir im Augenblick dieser Frage immer klar, wie gut es mir geht. Keine Bomben, die mir aufs Dach fallen. Wenn ich wollte, könnte ich mit einem Transparent auf die Straße gehen, auf dem steht, dass unser Bundeskanzler ein korrupter Satanist wäre. Außerdem betrachte ich mein Dasein als privilegiert: ich musste kein Abitur machen oder gar studieren. Leute geben mir Geld, damit ich Musik komponiere. Dazu ist das Leben im Hotel der Inbegriff breitspurigen Glücks. Jeden Tag Frühstücksbuffet. Positiv zu denken ist für mich daher selbstverständlich.
LEBEN IM HOTEL – die wöchentliche Kolumne
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“
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